Dienstag, 25. Juni 2019

[Rezension] Das Verschwinden der Stephanie Mailer - Joel Dicker



*Rezension*

Das Verschwinden der Stephanie Mailer von Joel Dicker

Umfang: 672 Seiten | Genre: Roman

Verlag: Piper | Preis: 25,00 € 



 Es ist der 30. Juli 1994 in Orphea, ein warmer Sommerabend an der amerikanischen Ostküste: An diesem Tag wird der Badeort durch ein schreckliches Verbrechen erschüttert, denn in einem Mehrfachmord sterben der Bürgermeister und seine Familie sowie eine zufällige Passantin.

Zwei jungen Polizisten, Jesse Rosenberg und Derek Scott, werden die Ermittlungen übertragen, und sie gehen ihrer Arbeit mit größter Sorgfalt nach, bis ein Schuldiger gefunden ist. Doch zwanzig Jahre später behauptet die Journalistin Stephanie Mailer, dass Rosenberg und Scott sich geirrt haben. Kurz darauf verschwindet die junge Frau ... - Die idyllischen Hamptons sind Schauplatz einer fatalen Intrige, die Joël Dicker mit einzigartigem Gespür für Tempo und erzählerische Raffinesse entfaltet.

Meine Meinung:

Joel Dickers Debüt "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" war eines meiner Jahreshighlights 2013. Ich lag damals krank zuhause in meinem Bett, hatte mir das Buch erst vor kurzem aus der Bücherei ausgeliehen und innerhalb eines Tages verschlang ich die knapp 700 Seiten wie im Rausch. Und das war es auch: Ein Leserausch.

Die Art, wie Dicker seine Charaktere zeichnete, zog mich in seinen Bann - er schaffte es spielend leicht, mir all seine Protagonisten mit all ihren Eigenheiten näher zu bringen und sie nicht nur beim Lesen in meinem Kopf, sondern auch gleichzeitig in meinem Herzen zu verankern. Die Geschichte rund um Harry Quebert führte mich oft in die Irre, ließ mich allerhand Verdächtigungen anstellen und erwischte mich eiskalt mit seinem raffinierten Ende, welches ich so nie erwartet hätte.

Alles in allem war ich schwer begeistert, war wahnsinnig enttäuscht, kein weiteres Buch von ihm lesen zu können und fieberte neuem Lesestoff entgegen.

Auch sein zweiter Roman "Die Geschichte der Baltimores" konnte mich von sich überzeugen und war in kürzester Zeit durchgelesen. Was ich besonders an ihm und seiner Art, Handlungen aufzubauen mochte, war wohl seine vielschichtigen und verschiedenen Erzählstränge. Joel Dicker hat zwar die Kunst perfektioniert, innerhalb seiner wechselnden Perspektiven oft ein wenig zu weit auszuschweifen und viel um seinen eigentlichen Plot herum zu schreiben, doch es wurde mir dabei nie langweilig.

Nein, ich genoss es, seine Charaktere so intensiv zu erleben, in ihre Köpfe einzutauchen und ihren Werdegang innerhalb der Geschichte verfolgen zu dürfen. Sie waren für mich wie eine kleine Familie, ich fieberte mit jedem einzelnen mit und klappte auch seinen zweiten Roman mit einem wehmütigen Seufzer zu.

Er war zu einem meiner Lieblingsautoren aufgestiegen und mit jeder Vorschau, die ins Land zog, suchte ich verzweifelt nach seinem Namen. Ihr wisst ja wie das ist, Leserherzen brauchen stets neuen Stoff. Und die von Fangirls gleich doppelt und dreifach.

Und dann entdeckte ich Anfang des Jahres den französischen Titel zu Stephanie Mailer. 

Ich freute mich unendlich, fragte auf Twitter gleich bei seinem Verlag Piper nach, wann denn mit der deutschen Übersetzung zu rechnen sei und musste mich noch ein wenig gedulden, bis dann endlich der deutsche Erscheinungstermin gesetzt war: April 2019. Mein Geburtsmonat. Perfekt!

Direkt am Erscheinungstag stürmte ich unsere kleine Stammbuchhandlung hier in Arnsberg, schnappte mir sein neuestes Buch und hätte ich mich damit zuhause am liebsten direkt eingemukkelt. Doch ich musste mich noch ein wenig gedulden, auf der einen Seite wollte ich dieses Mal nicht den gleichen Fehler machen und zu schnell durch die Geschichte rasen, auf der anderen Seite hielt mich unsere Tochter einfach zu sehr auf Trapp.

Dann war der große Tag gekommen. Ich öffnete fast schon ehrfürchtig meinen lang erwarteten neuen Joel Dicker und wollte jede Seite für sich genießen, denn mir war klar: Die Durststrecke bis zum vierten Roman würde garantiert ein wenig andauern und so wollte ich mir die Neuerscheinung, so gut es ging einteilen.

Ich fing an zu lesen und schon bald beschlich mich eine dunkle Vorahnung, die sich mit jeder Seite, die ich umblätterte manifestierte und mich wie ein dunkler Schatten immer mehr umschlang, bis ich es mir selbst eingestehen musste:

Das. ist. großer. Mist. - Nun kommen wir also zu meiner eigentlichen Rezension:

Manche Autoren ( und da darf sich Joel Dicker, meiner Meinung nach, nun auch einreihen ) schaffen es oft nicht, über ihren ersten großen Erfolg hinweg zu kommen und neue Geschichten zu schreiben. Oft finden sich in den nachfolgenden Romanen Ähnlichkeiten zum Erstlingswerk und das nicht zu knapp. Als ob die Ideen nur für diese eine Geschichte gelangt hätten. Genauso fühlte ich mich beim Lesen.

Die Handlung beginnt mit einem rasanten Einstieg eines lauen Sommerabends in Orphea 1994, an welchem ein entsetzlicher Mehrfachmord das kleine Städtchen völlig aus dem Gleichgewicht bringt. Diese ersten Kapitel konnten mich gut unterhalten, sie waren wie gewohnt flüssig und spannend geschrieben, was mich durch die ersten 50-60 Seiten ziemlich gut hindurch kommen ließ.
"Übergib den Fall einem deiner Kollegen", riet er mir. "Kommt nicht in Frage" - "Derek, die junge Frau war sich ganz sicher, dass wir 1994..." Er ließ mich nicht aussprechen. "Der Fall ist abgeschlossen, Jesse! Das ist Vergangenheit. Was hast du nur plötzlich? Warum willst du um jeden Preis wieder darin herumstochern? Willst du das wirklich noch einmal durchmachen?" 

"Du kommst also nicht mit mir nach Orphea?" - "Nein, Jesse. Tut mir leid. Du spinnst doch."
Eine Sache, die mir recht bald auffiel, war die Tatsache, wie unterschiedlich sich manche Kapitel lesen ließen. Das kann meines Erachtens nur an den beiden Übersetzerinnen liegen, welche sich hier so grundlegend voneinander unterscheiden. Stolperte ich in dem einen Kapitel nur so über umgangssprachliche Sätze, krude Unterhaltungen und seltsame Formulierungen, wechselte sich das im nächsten Kapitel mit der gewohnten Schreibweise von Dicker. Und das fiel mir während des gesamten Buches immer wieder auf.

Diese enormen Gegensätze im Schreibstil haben es mir schwer gemacht bei der Geschichte zu bleiben, denn nicht selten riss mich die weniger gelungene Übersetzung aus dem Lesefluss und sorgte für einige Kopfschüttler.

Was mich auch sehr enttäuschte, war der ganze Aufbau der Handlung. Hatte mich am Anfang noch die Rätselei gepackt, was damals wohl passierte und was es nun mit Stephanie Mailer und ihrem Verschwinden auf sich hat, packte mich bald die Ernüchterung. Denn nach nicht mal der Hälfte des Buches war schon geklärt, wohin Stephanie Mailer verschwunden war - doch warum nutzte man dann dieses Ereignis als Titel für den Roman, wenn dies so schnell abgehandelt wurde und eigentlich gar nicht Hauptbestandteil der eigentlichen Geschichte war?
"Wissen Sie, Frank, in dem Stück geht es um ein Geheimnis. Und das Entscheidende an einem Geheimnis ist im Grunde nicht, was es enthüllt, sondern was es verbirgt." - "Wie meinen Sie das?" - "Wenn man sie die Truppe genauer ansieht, hat jeder Darsteller etwas zu verstecken. [...] Wenn Sie meine Meinung hören wollen Frank: Hier geht es weniger darum, zu erfahren, was dieses Stück enthüllt, als herauszufinden, was es verbirgt."
Fragezeichen über Fragezeichen in meinem Kopf und diese wurden nicht gerade weniger. Neben der Handlung, welche zwar wieder gewohnt undurchsichtig und komplex konstruiert war, gab es eine ganze Reihe an Haupt- und Nebencharakteren, die nicht wie gewohnt sympathisch waren, sondern dieses Mal eine echte Bandbreite an Kuriositäten lieferten.

Gefühlt jeder Protagonist ( Polizisten und Journalisten eingeschlossen ) handelte unverständlich, stümperhaft und unglaubwürdig. 

Sie kamen mir wie völlig überzeichnete Parodien ihrer selbst vor und es tut mir leid, aber kein einziger von ihnen war mir nur ansatzweise sympathisch. Es kam mir so vor, als ob Joel Dicker stets noch eine Verrücktheit mehr mit einbringen wollte und dabei das Gesamtbild aus den Augen verloren hat ... schade, denn gerade seine Charaktere waren für mich in den Vorgängerromanen ein wahres Highlight!


Auch die Polizeiarbeit ließ hier sehr zu wünschen übrig und verlor sich in Nebensächlichkeiten wie z. B. der tragischen Beziehungskiste eines Polizisten, die es für mich gar nicht gebraucht hätte, da das nur zusätzliches Drama schaffte, was zum Ende aber nicht für irgendwas relevant war.

Die Ermittlungsarbeit wird eher schlecht als recht durchgeführt und keiner weiß so genau, was zu tun ist. Selbst für eine kleine Stadt wie Orphea gab es mir zu viel Korruption, zu viele Menschen wurden "einfach mal so" bestochen und die seltsamsten Methoden, um dem Täter auf die Spur zu kommen, wurden akzeptiert, nur um dann festzustellen, dass das so gar nicht funktioniert.

Sprang Joel Dicker "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" noch gekonnt durch die verschiedenen Blickwinkel und Zeitebenen, so verrannte er sich mit seinem neuesten Buch komplett. Da wurde hier mal ein Stückchen Rückblende eingestreut, dort mal ein Charakter neu eingeführt und beschrieben, dem man dann erst einmal etliche Seiten bei wenig spannenden Dingen verfolgte und dann wurde man als Leser schon wieder zurück zu den unfähigen Polizisten gezerrt. 200-300 weniger Seiten hätten der Handlung mehr als gut getan und circa bei der Hälfte hatte ich auch kurz die Überlegung, das Buch komplett abzubrechen.
Wir nahmen an, dass Stephanie im Polizeiarchiv die Ermittlungsakte des Vierfachmordes von 1994 hatte einsehen wollen. Daher gingen wir selbst ins Archiv und fanden ohne große Schwierigkeiten den Karton, der die Dokumente enthalten musste. Aber zu unserer großen Überraschung war er leer.   
Das Einzige, was er enthielt, war ein mit den Jahren vergilbtes Blatt Papier, auf dem mit Schreibmaschine geschrieben stand: Hier begann DIE SCHWARZE NACHT. Wie der Anfang einer Schnitzeljagd.
Was mich aber dann am Lesen hielt, war die einigermaßen erträgliche Spannungskurve, die zwischendurch doch wieder einen kleinen Aufschwung erhielt. Als ich das Ende endlich erreichte, war mir fast schon zum Jubeln zumute und gleichzeitig wollte ich vor Enttäuschung meine Ausgabe in die Ecke pfeffern. Die Auflösung rettete nicht wirklich etwas an der Geschichte, sie war viel zu sehr konstruiert und an den Haaren herbeigezogen.

Auch eine kleine Nebenhandlung, die zum Schluss noch ihren Abschluss findet, hätte ich mir anders vorgestellt, denn hier kommt ein Charakter mit Ach und Krach mit einem Mord davon, obwohl er sich so dämlich anstellt, dass sein Erfolg wirklich an ein Wunder grenzt.

Mein Fazit:

Schade Marmelade, dieses Machwerk kann man sich getrost an die Hutkrempe kleben oder zum Eigenschutz direkt in die Mülltonne werfen. Ich weiß nicht was hier passiert ist. Ob Joel Dicker keine Ideen mehr hatte oder ihm die Lust vergangen war auf eine neue Geschichte und der Verlag dazu drängte? Wir werden es wohl nie erfahren, doch eines ist sicher:

"Das Verschwinden der Stephanie Mailer" hier kann sich mit keinem seiner Vorgänger messen, ist mehr schlecht als recht geplottet und mit viel zu vielen seltsamen Charakteren, unglaubwürdigen Plottwists und Rückblenden, Rückblenden, RÜCKBLENDEN versetzt, um beim Lesen echte Spannung oder sogar Spaß zu erzeugen.

*~1 von 5 Sterne~*

2 Kommentare:

  1. Hallo!
    Huch, nun bin ich doch etwas entsetzt! Ich habe das Buch auch erst gelesen - meine Rezi folgt noch - aber bei mir schneidet es auf jeden viel besser ab! Recht geben muss ich dir mit der Nebenhandlung zum Schluss. Diese fand ich total unnötig im ganzen Buch und wie du bereits sagst ist dieser Mord sowas von stümperhaft, dass ich auch nur den Kopf schütteln konnte.
    Den Rest fand ich aber gut und bei weitem spannender als Harry Quebert. Mir gefiel allerdings sein zweites Buch viel besser als Harry Quebert, das doch teilweise seine Längen hat. Generell hat Dicker aber, wie J.K. Rowling als Robert Galbraith, einfach viel zu viel an Details und man könnte jeden Roman um 200 Seten kürzen.
    Vielleicht stört es dich, dass es nun bei Stepahnie Mailer (ja warum dieser Titel gewählt wurde ist mir auch ein Rätsel!) mehr Kriminalfall ist? Liest du sonst Krimis?
    Ich finde es auch interesant, dass diese Buch die meinungen doch ganz schön spaltet =)
    Liebe Grüße
    Martina

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    Antworten
    1. Hallo Martina!

      Ich habe auch schon gesehen, dass es die unterschiedlichsten Meinungen zu dem neuen Dicker gibt und finde es auch immer wieder extrem spannend zu sehen, wie unterschiedlich Wahrnehmungen und Geschmäcker sein können ... zum Glück!

      Oh, die Bücher von J.K. Rowling alias Galbraith wollte ich mir auch schon länger zu Gemüte führen. Generell mag ich es ja auch mal ausschweifend, allerdings muss dann eben auch etwas passieren und darf mich nicht langweilen, was Joel Dicker eindeutig geschafft hat.

      Krimis lese ich sehr gerne und oft, aber hier war das wirklich ein Griff ins Klo - leider! Ich mochte ihn ja so gerne. Wenn du deine Rezension geschrieben hast, verlinke sie mir doch hier, dann kann ich dich gerne in meiner Rezension mit erwähnen ... gerade bei so unterschiedlichen Rezensionen ist das ja ganz interessant für die Blog-Leser!

      Liebste Grüße,
      Antonie

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